Zwischenbilanz: kein Lernprozess

Am 12. Dezember 2019 – während des Weltklimagipfels COP25-Gipfel in Madrid – hatte die CO2-Konzentration in der Atmosphäre 411.52 ppm erreicht.1

Das Tempo des Anstiegs der Treibhausgasmenge in unserer Atmosphäre ist in der Klimageschichte der letzten 66 Millionen Jahre beispiellos… Beobachtungs-Daten zeigen, dass einige Elemente des Erdsystems bereits jetzt, bei 1°C erhöhter globaler Mitteltemperatur, auf dem Weg zu potenziell unumkehrbaren Veränderungen sind. Hierzu zählt das beschleunigte Schmelzen der grönländischen und westantarktischen Eismassen, Veränderungen in Regenwäldern und das Auftauen von arktischem Permafrostboden.2

Im Jahr 2000 haben wir mit dem Fotografieren von Gletschervergleichen in den Alpen begonnen: 2019 war unsere 20. Saison.

Auch die Alpen-Gletscher schwinden immer schneller. Wir fotografieren die Gletscher weiter, weil die Fotoreihen die Geschwindigkeit des Abschmelzens zeigen und ein überzeugendes Mittel darstellen, um die Klimaerwärmung zu visualisieren. Inzwischen werden präzise Vergleiche leider schwieriger, da die genauen Foto-Standorte, die die unverzichtbare Voraussetzung für exakte Vergleiche sind, immer öfter abgeschmolzen oder abgerutscht, verbaut oder zugewachsen sind.

Stabile Wetterlagen mit gutem Licht und möglichst ohne Schneereste sind die Voraussetzungen für die Vergleichbarkeit der Gletscherfotos. Da bleiben vor allem die Monate Juli (nicht immer) und August, da dann die Gletscherregionen meist frei von Schnee sind. Bis Juli kann oft noch Restschnee liegen und ab Anfang September kann es wieder schneien, wie dieses Jahr (auch wenn er nicht lange liegen bleibt).

In den letzten zwei Jahren war das Alpen-Wetter im August auffallend instabil und feucht: mit schneller Wolkenbildung, mit Regen, Dunst und Nebel. Die stabilen Schönwetterlagen im August blieben aus. Wir konnten trotzdem fotografieren – manchmal tut sich der Himmel auf.

Die durchschnittlichen Jahrestemperaturen im Alpenraum steigen etwa doppelt so stark an wie im globalen Mittel.

Kleine Gletscher sind besonders sensible Klimaindikatoren, da sie schnell auf Schwankungen des Klimas reagieren. Um 1820 bedeckten die bayerischen Gletscher eine Fläche von insgesamt 4 km², im Jahr 2010 sind es noch 0.7 km², 2015 nur noch 0.55 km². Heute existieren noch fünf kleine bis sehr kleine Gletscher in den Bayerischen Alpen: der Nördliche und Südliche Schneeferner auf dem Zugspitzplatt und der Höllentalferner sowie der Blaueis- und der Watzmanngletscher im Berchtesgadener Land.3 Unsere Vergleichsbilder zeigen die beiden Schneeferner (vom südlichen gibt es nur noch einen kleinen Eisrest). Es gibt dazu leider keine aktuellen Vergleichsbilder, da es in den letzten Sommern wiederholt (etwas) geschneit hatte: Die Bilder sind dann wegen der Schneereste nicht eindeutig interpretierbar.

Der Schwarzmilzferner, den wir zuerst irrtümlich den Bayerischen Gletschern zugeordnet hatten, liegt in den Allgäuer Alpen unmittelbar jenseits der deutsch-österreichischen Grenze in Tirol. Er ist inzwischen fast vollständig abgetaut.

„Ferner“ ist der Begriff für Gletscher in Bayern und in Tirol.

Der Sammelbericht über die Gletschermessungen des Österreichischen Alpenvereins im Jahre 2018 gibt an, dass sich von 93 gemessenen Gletschern 89 (95,7 %) zurückzogen und nur vier stationär blieben, d. h. sie veränderten sich in ihrer Länge um weniger als +/-1 m.4

Auch Forscher aus der Schweiz – dem Alpenland mit den meisten Gletschern -, prognostizieren die massive Schmelze: Innerhalb von 166 Jahren ist die Hälfte der Gletscherfläche der Schweiz weggeschmolzen. Schon in 30 Jahren könnten zwei Drittel der Gletscher verschwunden sein. Ein Forscherteam hat eine detaillierte Prognose für die ca. 3500 Gletscher (2014) in der Alpenregion erstellt.567

Die Alpen-Gletscher erreichten in der Neuzeit ihre größte Ausdehnung während der kleinen Eiszeit um das Jahr 18508 . Die gesamte Gletscherfläche der Schweiz betrug damals 1735 km². Heute sind es nur noch 890 km². 1973 zählte die Schweiz noch 2150 Gletscher, jetzt geht man von ca. 1400 Gletschern aus. Damit sind in diesem Zeitraum 750 vor allem kleine Gletscher verschwunden.

Der Pizol-Gletscher 100 Kilometer südöstlich von Zürich ist in den vergangenen Jahren so stark geschrumpft, dass er in diesem Jahr zum letzten Mal vermessen wurde. «Es ist nicht mehr viel vom Gletscher da», sagte Glaziologe Matthias Huss. «Jedes Mal, wenn man kommt, ist es wieder schlimmer.» An einer Gedenkfeier am Fuß des Pizolgletschers verabschiedeten sich am 22. 9.2019 über 200 Personen von dem einst mächtigen Eisstrom, der als erster Schweizer Gletscher aus dem Messnetz des Bundes gestrichen wird. Mit der Trauerfeier wollten Umweltorganisationen auf die Klimaerwärmung aufmerksam machen, die nicht zuletzt auch den Gletschern zusetzt. Organisiert wurde die Abschiedszeremonie unter anderem vom Hilfswerk Fastenopfer sowie der Gletscherinitiative und Greenpeace.9

Auch die Eisdicke der Gletscher geht dramatisch zurück. Matthias Huss (ETH Zürich/Universität Freiburg) schätzt das Eisvolumen für 1850 auf rund 130 km³. 2016 waren es noch 54 km³, also fast 60 Prozent weniger.

Selbst mit größten Anstrengungen zur CO2-Reduktion würden 80 bis 90 Prozent der Eismassen bis ins Jahr 2100 verloren gehen. «Eine Verlangsamung der Erderwärmung kommt für die Schweizer Gletscher zu spät», so Huss.510

Der Eisschwund der größten Schweizer Gletscher im Wallis ist besonders deutlich sichtbar: Beispiele sind der Rhone- oder der Aletschgletscher, der größte aller Alpengletscher. Das gilt aber auch für den Morteratschgletscher in Graubünden oder in Grindelwald im Kanton Bern (BE), wo der Gletscher vor 160 Jahren noch bis ins Dorf floss. Der Triftgletscher (Gadmental/ BE) hat allein zwischen 2000 und 2015 zwei Kilometer an Länge verloren.

Auch diese Gletscher haben wir in Vergleichen fotografiert – es ist jedes Mal wieder erschreckend, wie schnell das Eis abschmilzt.

Neue Entwicklungen und neue Gefahren

Massenverlust von Gletschern in globalem Ausmaß, das Tauen von Permafrost und der Rückgang der Schneebedeckung (…) werden sich laut Projektionen in der nahen Zukunft (2031–2050) fortsetzen, da die Oberflächenlufttemperatur zunimmt (hohes Vertrauen), was unvermeidliche Auswirkungen auf den Abfluss von Flüssen und lokale Gefahren hat (hohes Vertrauen).11

Zu den Gefahren im Alpenraum gehören die schnelle Bildung neuer Seen und das Auftauen des Permafrostes.

Gletscher werden zu Seen

Während sich die Gletscher zurückziehen, füllen sich freigeschmolzene „Übertiefungen“ mit Schmelzwasser. Hier entstehen relativ schnell neue Bergseen: Man sieht das deutlich am Rhonegletscher, dem Ursprung der Rhone.12 Sie fließt jetzt als Wasserfall aus einem See, der noch vor wenigen Jahren Eis war. Besonders bestürzend ist auch das Beispiel der Pasterze am Großglockner, die in den Jahren 2000, 2011, 2013, 2016 und 2019 fotografiert wurde.13 Über dem Eis hat sich in sehr kurzer Zeit ein großer See gebildet. Die Pasterze ist der größte Gletscher Österreichs.

Eine Seen-Modellierung der Uni Zürich kommt zum Schluss, dass sich 500 bis 600 Seen bilden könnten. Die Gesamtoberfläche dieser Seen würde sich auf 50 bis 60 Quadratkilometer belaufen. Einige dieser Seen könnten mehr als 100 Meter tief werden und ein Volumen von über 10 Millionen Kubikmeter aufweisen, was einem Stausee mittlerer Größe entspricht. „Die neuen Seen stellen ein mögliches, ernst zu nehmendes Gefahrenpotenzial dar. Sie bilden sich oft am Fuss steiler Bergflanken, deren Stabilität mit den Veränderungen im Hochgebirge wie Permafrost-Degradation oder durch Gletscherschwund reduzierten Eis-Gegendruck langfristig abnimmt. Auf lange Sicht muss deshalb mit der Möglichkeit von grossen Sturzereignissen in Seen gerechnet werden, die zu einem Seeausbruch und damit zu weitreichenden Flutwellen ins Tal führen können. Die Eintretenswahrscheinlichkeit solcher Katastrophen ist klein, nimmt aber mit wachsender Anzahl neuer Seen und den andauernden Veränderungen im Hochgebirge zu.“14

Deshalb bergen Gletscherseen, seien sie natürlichen oder künstlichen Ursprungs wie Stauseen, ein erhebliches Gefahrenpotenzial.

Der Permafrost taut auf – mit Folgen

Der Klimawandel führt auch zum Auftauen des Permafrostes in den Alpen.

Als alpinen Permafrost bezeichnet man den dauer-gefrorenen Untergrund (Fels, Schutt, Moränen u.a.) oberhalb der Baumgrenze in 2.400 bis 2.600 NHN. In den letzten Jahren ist die Temperatur in Permafrost angestiegen. Ist der Fels, das Gestein, der Boden durch Eis nicht mehr gut gekittet, geht die Stabilisierung ganzer Bergflanken verloren.

Der gigantische Bergsturz am Piz Cengalo oberhalb von Bondo ist auf auftauenden Permafrost, aber vor allem auch auf die starke Gletscherschmelze am Fuß des Berges zurückzuführen. Dadurch verlor der Fels seine Stütze und wurde instabil. Bei Bondo donnerten im Sommer 2017 vier Millionen Kubikmeter Fels und Geröll ins Tal und richteten große Zerstörung an. Acht Wanderer werden bis heute vermisst.15

Die Auswirkungen des Klimawandels auf das Gebirge zeigen sich auch aktuell am Aletschgletscher oberhalb von Riederalp. Die Bergflanke Moosfluh wird durch den Gletscherschwund instabil. Der Hang der Moosfluh rutscht um mehrere Meter pro Jahr. Oberhalb der Gletscherzunge wurden im Herbst 2016 Verschiebungen von 10 bis 30 Metern gemessen. Dort entstanden riesige Spalten im kristallinen Fels, die sich erschreckend schnell gebildet haben. Mindestens 150 Millionen Kubikmeter Fels sind in Bewegung.16 Die Moosfluh ist der wahrscheinlich bestüberwachte Hang der Alpen.

Dies sind nur zwei Beispiele. Wir fotografieren diese Ereignisse – sie gehören zu den Auswirkungen der so schnell schwindenden Gletscher.

Trotzdem: Der Erschließungs-Wahnsinn geht weiter?

Die Pitztaler und Ötztaler Gletscherbahnen wollen sich zum größten Gletscherskigebiet Europas zusammenschließen. Behörden prüfen gerade die Umweltverträglichkeit des Projekts. Von der Braunschweiger Hütte des DAV in den Ötztaler Alpen schaut man auf die viertgrößte Gletscherfläche der Ostalpen (LINK Vergleich Gletscherarchiv). Bisher blieb diese sensible Hochgebirgslandschaft beinahe unberührt, doch der Erschließungsdruck steigt – nicht zuletzt aufgrund des Klimawandels.

Die Pitztaler und Ötztaler Gletscherbahnen wollen hier schon seit Jahren eine «Lücke» schließen, indem sie von beiden Seiten Gondelbahnen bauen, die stündlich mehrere tausend Skifahrer bergwärts transportieren sollen. Zudem planen sie ein Skizentrum mit Restaurant, Garagen und diversen Verkehrswegen, wollen 64 Hektar neue Skipisten auf dem schwindenden Gletschereis planieren, einen Speichersee für Kunstschneeproduktion graben und einen 614 Meter langen Skitunnel durch den Berg bohren. 72 Hektar gewachsener Gletscher sollen planiert und überschüttet werden.

Umweltorganisationen und Alpenvereine kritisieren das Projekt, da es einen massiven landschafts-zerstörenden Eingriff in die fragile Bergnatur darstellen würde.17

Das Wasser der Gletscher

Der Gletscherschwund wird weitere starke Auswirkungen nicht nur auf die Alpenregion haben. Mit den Gletschern schmelzen auch Trinkwasser- und Flusswasser-Reservoire.

In den nächsten Jahren und Jahrzehnten wird sich der Abfluss des Schmelzwassers erhöhen. Dabei spielen Wasserabflüsse während des Hochsommers eine große Rolle.

So ist mehr als ein Viertel des Rhone-Wassers, das im August ins Mittelmeer fließt, Schmelzwasser der Gletscher. Selbst in den fernen Niederlanden stammen rund sieben Prozent des Rhein-Wassers von den Alpengletschern, obwohl diese beteiligten Gletscher nur einen verschwindend kleinen Teil von weniger als 2 Promille des Einzugsgebietes bedecken.18

Würde also der Beitrag der Gletscher zur Wasserführung von Rhein, Rhone, Donau und Po fehlen, führt dies zu einem deutlichen Rückgang des Flusswassers im Sommer bedeuten. Besonders ausgeprägt wäre dieser Effekt bei Hitzewellen.

Warum wir das Gletscherarchiv weiterführen

Wir führen das alpenweite Gletscherarchiv weiter. Es ist ein einmaliges Dokument einer verschwindenden „Spezies“, der Alpengletscher. Als Erinnerung und als Verbeugung vor unseren alten Freunden, den Gletschern, die fast lautlos verschwinden und deren Abschmelzen uns nach wie vor wütend macht.

Erfreulich ist das Engagement der jüngeren Generation zum Klimaschutz: Hunderttausende demonstrierten 2019 weltweit bei Klimademos.

Auch hier können unsere Gletschervergleiche weitere Überzeugungsarbeit leisten.

Wir danken Greenpeace Deutschland für die langjährige Förderung des Gletscherarchivs.

Gesellschaft für ökologische Forschung, München

München, im Dezember 2019

Sylvia Hamberger und Wolfgang Zängl (Projektleitung) – York von Wittern (Bildarchiv)

  1. https://scripps.ucsd.edu/programs/keelingcurve/ []
  2. Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung: Forschung für COP25: Zehn Fakten, die Verhandler beim Klimagipfel kennen sollten – https://www.pik-potsdam.de/aktuelles/pressemitteilungen/forschung-an-cop25-zehn-dinge-die-klima-verhandler-wissen-muessen. []
  3. http://www.bayerische-gletscher.de/ []
  4. https://www.alpenverein.at/portal_wAssets/docs/service/presse/2019/gletscherbericht/Gletscherbericht_2_19.pdf []
  5. https://interaktiv.tagesanzeiger.ch/2017/gletscherschwund/?openincontroller [] []
  6. https://www.the-cryosphere.net/13/1125/2019/ []
  7. https://www.scinexx.de/news/geowissen/alpen-eisfreie-zukunft/ []
  8. Seit Mitte des 20. Jahrhunderts ist der menschliche Einfluss die Hauptursache der – sehr schnellen – Erwärmung des weltweiten Klimasystems. Jedes der vergangenen drei Jahrzehnte war an der Erdoberfläche sukzessive wärmer als alle vorangehenden seit 1850. Der Hauptgrund für diese Erderwärmung ist der hohe CO2-Ausstoß, der einen starken Anstieg der CO2-Konzentration in der Erdatmosphäre zur Folge hat – 400 ppm (parts per million) wurde erstmals ab Januar 2015 überschritten (https://scripps.ucsd.edu/programs/keelingcurve). Nach allem, was wir wissen, war der CO2-Wert in der ganzen Menschheitsevolution, seit es den Homo sapiens gibt, noch nie so hoch. Bei Untersuchungen von Tiefbohrkernen im Inlandeis der Antarktis konnten der CO2- und der CH4-Gehalt (Methan) in den Luftbläschen bis mindestens 800.000 Jahre zurück bestimmt werden – sie lagen nie höher als 300 ppm. Der weitere CO2-Anstieg wird nach neuen Computersimalionen und Untersuchungen der Ablagerung in Meersböden sogar höher sein als in den letzten 3 Mio. Jahren (https://www.pik-potsdam.de/aktuelles/pressemitteilungen/mehr-co2-als-jemals-zuvor-in-3-millionen-jahren-beispiellose-computersimulation-zur-klimageschichte). Siehe auch: https://de.wikipedia.org/wiki/Kleine_Eiszeit []
  9. https://www.greenpeace.ch/de/medienmitteilung/36422/der-pizolgletscher-ist-tot-gedenkfeier-im-hochgebirge/ []
  10. http://www.agu.org/pubs/crossref/2011/2010WR010299.shtml []
  11. IPCC-Sonderbericht über den Ozean und die Kryosphäre in einem sich wandelnden Klima (SROCC) Vorläufige Übersetzung 25.9.2019, https://www.de-ipcc.de/ []
  12. http://www.gletscherarchiv.de/neue-vergleiche/neue-vergleiche-2018/ []
  13. http://www.gletscherarchiv.de/neue-vergleiche/neue-vergleiche-2019/ []
  14. https://www.zora.uzh.ch/id/eprint/85520/1/2013_HaeberliW_3534_Neue-Seen-als-Folge-des-Gletscherschwundes-im-Hochgebirge_OA__.pdf []
  15. http://www.goef.de/_media/rede_von_wolfgang_zaengl.pdf []
  16. https://www.bafu.admin.ch/bafu/de/home/themen/naturgefahren/dossiers/rutschung-moosfluh.html []
  17. https://www.cipra.org/de/news/groessenwahn-am-gletscher []
  18. http://www.greenpeace.org/austria/de/News/Aktuelle-Meldungen/Klima-News/2014/Gletscher-schmelzen-rasant-/ []